Man schrieb im heiligen Köln das Jahr 1305 AD, als das Folgende abspielte
Der Rauch des Herdfeuers hing in Schwaden unter der schwarzen Balkendecke des Haxenhauses. Fett knackte in der Pfanne, und irgendwo im Schatten fuhr ein Messer durch Brot, grob und sicher, begleitet vom dumpfen Schub eines Fasses, das über den gestampften Boden gerollt wurde. Draußen am Buttermarkt lag der Nebel dicht wie Schafwolle, und jede Laterne hatte einen Hof aus milchigem Licht, als trüge sie ihren eigenen kleinen Mond vor sich her.
Der Nachtwächter trat ein, klopfte Tau und Kälte von seinem Mantel, und hielt einen Augenblick inne, bis ihm die Hitze die Finger wieder freimachte. Er hieß Eberhart, ein Mann von fünfunddreißig, breitschultrig, mit einem Gesicht, das so beständig wirkte wie eine Stadtmauer. Die Hellebarde stellte er an die Wand, neben den Schildhaken, die schon stumpf vom ständigen Gebrauch waren. Er ließ sich auf die Bank am schweren Eichentisch sinken.
„Griet! Ein Krug und etwas Warmes, eh ich auf die Runde gehe.“
Die Schankmagd tauchte hinter dem Tresen auf, junge Fülle unter dem groben Leinen, das Tuch locker über dem Haar. „Warm haben wir genug, Wächter,“ sagte sie, „das Feuer schlingt mehr als zwei Schweinsköpfe. Willst du Haxe oder Eintopf?“
„Eintopf. Und du brauchst nicht zu rechnen – ich zahl’s bar.“
Griet lachte und schob ihm den Krug hin, der Schaum schwappte über den Rand. „Heute ist’s eine Nacht, wo wir das Rechnen brauchen und auf uns zukommt, nicht nur auf dich.“
„Was zu rechnen?“ Eberhart trank. Das Bier war schwer und rund, mit jenem bitteren Nachklang, der die Zunge weckt.
„Die Seelen, rechnen“ sagte sie halblaut, als sei das Wort selbst anfällig für Zugluft. „Allerheiligen, Eberhart. Heut gehen die, die wir vergessen, ein Stück mit. Hast du nie gehört, was über die Salzgasse erzählt wird?“
Er tat so, als ordne er nur seine Handschuhe, doch er sah sie von unten an, ein wenig spöttisch. „Ich höre viel, wenn die Leute getrunken haben. In der Salzgasse wohnt der Wind und pfeift durch die Fugen, das ist alles.“
Griet zog die Braue hoch, stellte ihm den dampfenden Teller hin und stützte sich mit der Hüfte an den Tischrand. „Der Wind? Dann hat der Wind wohl auch Füße, die die Stufen zum Rhein hinuntergehen, und eine Laterne, die tanzt wie ein Kind im Reigen?“
„Laternen tanzen, wenn Hände sie schütteln.“
„Nicht wenn keine Hände da sind.“
Sie blickte kurz über seine Schulter, wo das Butzenscheibenfenster das Nebelweiß in stumpfe Quadrate schnitt. „Vor zwei Jahren, in der Nacht auf Allerheilgen, ist ein Fischerbursch ertrunken, bei der Frankenwerft. Man sagt, er habe eine Braut gehabt, die ihn warten ließ. Und seither… Na ja. Manchmal sieht man’s Licht wandern, knapp über dem Wasser, und hört ein Singen, ganz sacht, als ob einer das Nachtgebet vergisst und sich stattdessen an ein Lied klammert.“
Eberhart tauchte das Brot in den Eintopf und biss ab. „Man sagt viel. Man sagt auch, der Erzbischof bete heimlich mit den Kaufleuten um dieselbe Kasse.“
Griet schnalzte mit der Zunge. „Du bist ein harter Hund. Aber heute…“ Sie legte ihm fast zärtlich die Hand auf die Schulter, als wolle sie den Spott glätten. „Heute würd ich zweimal schauen, wenn was im Nebel tanzt. Und dreimal die Finger kreuzen.“
„Zweimal schauen tu ich immer,“ sagte er und ließ ein kurzes Lächeln sehen. „Dafür hält man mich.“
„Und das Kreuz?“ fragte sie.
„Das trag ich im Kopf, nicht an der Hand.“
Eine Truppe Schiffer lärmte am anderen Ende der Stube, ein Hund knurrte im Schlaf. Die Glocke von Groß Sankt Martin gab die Stunde, dumpf durch den Nebel. Jemand bekreuzigte sich in der Ecke, ganz unwillkürlich. Eberhart schob den Teller von sich, wischte den Mund mit dem Handrücken ab und griff nach der Hellebarde.
„Ich geh.“
„Wart.“ Griet holte eine kleine Laterne, legte neue Kienspäne hinein und schob sie ihm hin. „Die da brennt ruhig. Und wenn sie doch tanzt – dann weißt du, dass’s nicht meine war.“
Er nahm die Laterne, prüfte den Bügel. „Du machst mir zu viel Wind um zu wenig Licht.“
„Und du zu wenig um zu viel Nacht,“ erwiderte sie, nicht unfreundlich. „Geh mit Gott, Eberhart.“
„Und bleib mit dem Wirt,“ sagte er und hob zwei Finger zum Gruß.
Draußen schlug ihm die Kälte entgegen. Der Buttermarkt war leer, die Stände zugehängt, die Bretter feucht. Der Nebel schob sich in die Gassen wie ein Tier, das etwas Verlorenes sucht. Eberhart hakte die Laterne an den Gürtel, legte den Gurt fester, und sein Ruf fuhr die Salzgasse hinunter, rund und einstudiert wie eine Gebetsformel:
„Hört ihr Leut und lasst euch sagen—!
Die Glock hat sechs geschlagen—!
Bewahrt das Feuer und das Licht—!
Dass euch kein Unglück widerficht—!“
Sein Ruf zerschnitt die nasse Luft und verlor sich. Nur das Tropfen von Wasser irgendwo und das leise Schnalzen eines losen Fensterhakens antworteten. Er ging weiter, die Hellebarde leicht angelegt, den Blick dahin, wo Weg und Mauer eine dunkle Linie bildeten. Rechts, die Salzgasse, Häuser eng an eng, das Pflaster schmierig. Links, die Gasse zum Rhein, ein Ziehen in der Luft wie das Atmen eines großen Tieres.
Als er die Ecke zur Frankenwerft nahm, lag die Stadt flächig hinter ihm, eine Sammlung aus Geräuschen ohne Körper: eine späte Stimme, ein Holzknarren, das ferne Murmeln von Groß Sankt Martin.
„Siehst du?“, sagte er leise, als spräche er mit Griet, die nicht da war. „Nichts als Nebel.“
Der Nebel war anders überm Wasser. Er hatte Höhe. Er stand, schwoll, fiel, als sei darin ein langsames Herz. Eberhart blieb stehen, lauschte. Die Laterne brannte ruhig. Sein Atem ging etwas schneller als normal, aber nur kurz.
Dann sah er es.
Erst war es nur ein anderes Weiß im Weiß, ein Fokus im formlosen Feld. Es wurde fester, als hätte jemand die Luft gepackt und gedreht. Ein Licht. Klein, in Bewegung. Es tanzte nicht wirklich; es… wechselte. Ging nach links, stand, sprang vor, stand, wie ein Tier, das prüft, ob es vor dir fliehen muss oder dich locken will.
„He,“ sagte Eberhart, ohne wirklich laut zu sein, und spürte, wie ihm die Zunge gegen den Gaumen klebte. „Steht wer da?“
Kein Wort, keine Hufschläge. Das Licht machte einen Kreis und verschwand. Dann wieder da, tiefer, näher am Wasser, an der Kante, wo der Nebel offen war, als sei dort ein Schlund.
„Wenn’s ein Streich ist,“ rief er nun, „so ist’s ein schlechter. Kommt her, zeigt euch!“
Keine Antwort. Nur die Glocke, nun sieben Schläge, über dem See aus Nebel. Eberhart zog die Laterne aus dem Gürtel, hielt sie hoch. Seine Flamme blieb ruhig, klein, so verlässlich, wie Griet es versprochen hatte. Das andere Licht dagegen – es hatte keine Flamme. Es war nicht gelb, nicht rötlich, es hatte die Farbe des Nebels selbst, nur dichter, als hätten sich alle Tropfen dort versammelt.
„Heilige Mutter,“ murmelte er, ohne sich dabei zu schämen, „wenn dies ein Werk der toten Seelen ist, so halt mir die Hand.“
Er ging los, fünf Schritte, dann noch drei. Das Pflaster wurde glatter, feucht, der Rand zum Rhein war nur ein dunkler Schnitt. Das Licht wich zurück, machte einen Satz zur Seite, verlor sich, tauchte wieder auf – nun in Höhe einer Treppe, die er kannte. Hier, sagte etwas in ihm, hier ist der Platz, an dem der Fischerbursche vor zwei Jahren seine Füße versetzt hat. Und dort, der Schleifspuren wegen, dort hat man ihn zuletzt gesehen.
„Wer da!“ rief Eberhart. Seine Stimme war zu laut im Nebel, ein rostiges Krächszen. „Jetzt hat’s ein Ende!“
Er setzte den Fuß auf die erste Stufe zur Treppe, das Holz der Hellebarde an die Wand angelehnt. Die Laterne hielt er tiefer, um die Stufen zu lesen. Schritt für Schritt. Das Licht hielt Abstand, kichernd, wenn Licht kichern kann: flackernd, plötzlich zweifach, dann wieder ein einziges, als ob’s sich in etwas spiegelte, das keine Fläche hatte.
Eberhart blieb stehen. Etwas war neben ihm in der Treppennische, ein Schatten im Schatten. Er hob die Hellebarde, hörte aber nur seinen lauten Puls.
„Wenn ihr Burschen seid,“ sagte er leiser, „dann kommt. Ich haue euch nicht. Aber ich mag’s nicht, wenn einer in dieser Nacht mit dem Wasser spielt.“
Nichts. Ein Tropfen löste sich von dem überhängenden Stein, fiel, platzte unsichtbar. Das Licht blinkte auf, nur eine Armlänge entfernt, und Eberhart riss die Laterne hoch. Da war nichts. Kein Docht, keine Hand, nur Luft, kalte Luft, die ihm ins Gesicht fuhr, als öffnete ihm jemand den Mund, um ihm das Wort zu nehmen.
Er machte einen Schritt zurück. Der Fuß fand keine Stufe, rutschte, die Hellebarde schlug gegen Stein, die Laterne gegen den Mantel. Ein Funke sprang. Er fing sich, atmete schnell, spürte den Ärger und das Lachen, das im Ärger liegt, wenn man sich ertappt fühlt. „So also,“ brachte er hervor, „so also.“
Er stieg wieder hinauf. Oben war der Nebel anders – er hatte die Form der Gasse, er verriet die Mauern. Eberhart richtete die Hellebarde und ging die Frankenwerft entlang, bis zum nächsten Winkel, wo die Häuser enger standen. Das Licht blieb am Rand seines Sehens und tat, als schere es sich nicht um ihn; als sei es ein Ding, das seine eigenen Wege hat.
Zwischen den Häusern sang nun eine Frauenstimme, nur zwei Silben, kein Lied. Er blieb stehen, horchte. Dann war es wieder still. Ein Schild quietschte, ein Esel schnaubte, und am Ende der Gasse glitt etwas Dunkles vom Dach: nur eine Wasserlache, sagte er sich; nur Tau, der sich gesammelt und abgeflossen ist. Er rief die Stunde, wie es Pflicht war, und wunderte sich, dass seine Stimme wieder klang, als hätte sie nichts erlebt.
So verging die Nacht. Manchmal war das Licht da, neben ihm, hinter ihm, vor ihm, und er tat, als wäre es das erste Mal. Manchmal war nichts als der Nebel, und doch spürte er einen Zug im Rücken, als hätte jemand Fäden an ihm, sanfte, hartnäckige. Einmal glaubte er, Schritte in der Salzgasse zu hören, die auf seinen antworteten, und holte aus, im selben Takt, um den Schatten im Gleichschritt zu fangen — da war nur die Hellebarde, die an der Mauer ihren eigenen Widerhall fischte.
Gegen Mitternacht, als Groß Sankt Martin und – weiter westlich– Sankt Alban ihre Glocken übereinanderlegten wie zwei schwere Decken, blieb er auf dem Buttermarkt stehen. Das Licht stand ihm gegenüber, auf der anderen Seite, bei einem aufgegebenen Karren. Es stand wirklich. Kein Tanz, kein Flüstern, und es war, als atmete es. Eberhart fühlte die Nackenhaare, so klein, so eigenwillig. Er hob die Hellebarde nicht, er hob die Hand und machte langsam das Zeichen, das Griet ihm ans Herz geredet hatte.
„Wenn du einer bist,“ sagte er, und wusste nicht, ob er einen Geist meinte oder einen Menschen oder etwas, das beides nicht ist, „der heim will: Ich kann die Stunde nennen, ich kann aber den Weg nicht öffnen. Geh, wohin du musst.“
Die Luft bewegte sich. Ein Falter – nein, kein Falter, um diese Zeit; ein Stück Asche, das nicht war; ein wenig Wärme, die sich von ihm löste, obwohl es kalt blieb. Das Licht sank, hob sich, sank noch einmal, wie ein Nicken. Dann war es fort, so rasch, wie eine Kerze erlischt, wenn man ihr zwischen zwei Fingern den Atem nimmt.
Eberhart stand eine Weile, ohne nachzudenken. Er dachte überhaupt nicht, und das tat gut. Dann ging er weiter, rief die Stunde, nahm den Weg an Groß Sankt Martin vorbei, hörte den Rhein und die Stadt und sein eigenes Gehen. Vor dem Morgengrauen, als der Nebel nicht verschwand, sondern nur flacher wurde, schob er die Tür des Haxenhauses auf.
Im Herd war nur noch wenig Glut, doch die Küche war wach, und Griet, mit aufgekrempelten Ärmeln, spülte Krüge. „Da bist du ja,“ sagte sie, ohne aufzusehen. „War’s ruhig?“
„Es war Nacht,“ antwortete er. Er stellte die Laterne auf den Tisch, löste den Gurt der Hellebarde. „Und du?“
„Die Burschen von der Werft haben früh aufgehört. Einer sagte, die Luft wäre zu schwer.“ Sie drehte sich um und musterte ihn, einen Herzschlag länger, als nötig gewesen wäre. „Hast du geschaut? Zweimal?“
„Dreimal,“ sagte er.
„Und?“
Er zog die Schultern, als wäre sein Mantel noch schwer. „Ich hab getan, was ich zu tun hatte.“
„Aha.“ Griet trocknete die Hände am Schürzentuch. „Man sagt, die Heiligen gehen heut früh durch, beim ersten Licht. Vielleicht nimmt manch einer jemanden mit.“
„Man sagt viel.“ Er setzte sich und nahm, was sie ihm hinstellte: ein Stück Brot, ein Bröckchen Käse, ein Rest kalter Eintopf. „Wenn’s einer war, der heim musste – dann hat er den Weg gefunden.“
„Und wenn’s ein Streich war?“
Eberhart kaute. „Dann war er gut gespielt.“
Sie lächelte, nicht spöttisch. „Du wirst’s keinem erzählen, nicht wahr?“
„Wem denn?“ Er sah sie an, und in seinem Blick lag etwas, das er sonst für die Vorgesetzten in der Stadt reservierte. „Es ist Allerheiligen. Man lässt die Toten ruhen. Und die, die sie gesehen haben, auch.“
Griet nickte. Draußen nahm der Nebel die Farbe von Milch an, die in der Schüssel zu dünn geworden ist. Jemand zog einen Laden hoch, es machte das bekannte Kreischen. Aus der Ferne, aus der Richtung von Sankt Alban, kam eine letzte Glocke, spät oder früh, wer wollte das sagen.
Eberhart stand auf. „Ich geh noch einmal durch, bis zur Komplet. Dann leg ich mich.“
„Und nächstes Jahr?“ fragte Griet, schon halb wieder zur Arbeit gewandt.
„Nächstes Jahr schau ich wieder zweimal,“ sagte er.
„Und kreuzt du die Finger?“
„Ich trag’s im Kopf,“ entgegnete er und hob zum Gruß die Hand, als hätte er’s doch an den Fingern.
Als er hinausging, stieg die Stadt an den Tag. Der Nebel dünnte, aber ganz fort ging er nicht. Am Rand des Buttermarkts, wo der Karren gestanden hatte, war nichts. Kein Tropfen Wachs, kein Kienspanrest, kein Bursche, der lachte. Nur die Spur eines Rads im feuchten Boden, als hätte dort jemand gewartet, um sich führen zu lassen.
Eberhart hob die Laterne, die nun nicht mehr nötig war, und blies sie aus. Für einen Atemzug lang war da wieder dieses andere Licht, in seinem Auge, oder draußen, er wusste es nicht; und dann war nur der Morgen, der über die Dächer kam, und Köln, so tat, als wäre es nie dunkel gewesen.
Die Geschichte ist frei erfunden und basierte auf historische Ortsbegebenheiten

