Wo ist Marvin?

Die Weihnachtsfeiertage sind vorbei und das neue Jahr hat bereits seine ersten Tage hinter sich.
Das Wetter scheint nicht zu wissen, was es will – mal kalt, mal für die Winterzeit zu warm. Seit Jahren erleben wir, wie launisch und wechselhaft die Wetterlage ihren großen Einfluss auf unser tägliches Leben ausübt.

Mit Argwohn verfolge ich seit den Jahrhunderthochwassern in den Jahren 93´ und 95´ die Wetteransagen in den Nachrichten.

„Schneefall im Süden“
„Leichter Frost in den Mittelgebirgen“
„Schneeregen im Westen“
„Tauwetter im Südwesten“
„Schneefall in den Bergen oberhalb von 1000 Metern“
„Gefrierender Regen! Blitzeis in der Nacht“

Dieses ständige Hin und Her der Temperaturen zwischen den „Tagen“ und in den ersten Januarwochen erschweren oder machen es unmöglich, eine fundierte Wetterprognose abzugeben – geschweige denn zu wissen, wie man sich in einem Hochwassergefährdeten Gebiet wie der Altstadt von Köln verhalten soll.

Ja, man hat dazugelernt, besonders nach den großen Fluten. Maßnahmen wurden getroffen: Ein neuer, besserer Hochwasserschutz für die Stadt wurde installiert. Automatische Wasserpumpen in den Kellern angebracht und Wartungs- und Notfallpläne werden regelmäßig überprüft.

Dennoch. Wenn die Zeiger des Pegels am Rheinufer seine Zeiger in Richtung 6 Meter-Marke bewegt, sind sie wieder da: die Sorgen, die Erinnerungen, die gefühlte Ohnmacht von damals.  Die Gedanken an das Erlebte, während das Haxenhaus abgesoffen ist. Wie das brackige Rheinwasser den Keller überflutete und im Restaurant höher als die Holzvertäfelung seine Spuren in die Wände fraß.
Und In diesen Momenten, auch dreißig Jahre später, muss ich immer wieder an Marvin denken. An das, was an diesem Abend im Haxenhaus geschah.

Marvin war in den Neunzigern Hobbyfotograf und ein Bekannter unseres Elektrikers.
Er hatte unsere Mitarbeiter gebeten, dabei sein zu dürfen, wenn das Lokal ausgeräumt wird, um das ganze Geschehen rund um die Überflutung unseres Restaurants zu fotografieren.

Es war an diesem denkwürdigen Abend im Januar 1995 gewesen. Dreizehn Monate nach der Flut von Weihnachten 1993 war es verdammt noch mal schon wieder so weit. Mosel und Neckar hatten ihre Scheitelwellen auf das Hochwasser aus dem Süden aufgesattelt und in den Rhein gespuckt. Die nächste Flutwelle rollte mit zigtausenden von Kubikmetern Wasser den Rhein nordwärts. Und die Wetter-Voraussagen prophezeiten weiterhin starken Regen südlich von Köln und einen noch höheren Pegel als beim letzten Mal.

Im Haxenhaus hatte die gesamte Crew in großer Eile Keller und Restaurant ausgeräumt. Strom war abgeschaltet. Möbel, Maschinen, Geschirr, Kassen, Elektrogeräte und Unterlagen wurden per Menschenkette in die 1. Etage geschafft. Taschenlampen wurden verteilt und auf jeder Treppenstufe stand einer unserer Mitarbeiter und reichte Möbel-Stück für Möbel-Stück von unten nach oben.

Erst als Restaurant und Keller leergeräumt waren und sämtliche Muskeln schmerzten, spürten wir, wie erschöpft wir alle waren.  Laut den Vorhersagen dürfte es jetzt nicht mehr lange dauern, bis das Wasser über die aufgestellten Spundwände strömen würde.

Marvin hatte Adi kurz Bescheid gesagt, dass er jetzt, wo der Keller leergeräumt war, noch einmal nach unten wollte, um die die leeren Kellerräume zu fotografieren.

Aus dem Lautsprecher des Kofferradios ertönte der Nachrichten-Sprecher von WDR mit den aktuellen Informationen, die seit ein paar Stunden in immer kürzeren Intervallen gegeben wurden:
„Sehr geehrte Damen und Herren. Hier sind die neusten Nachrichten: Die Hochwasserwelle hat Bonn passiert und rollt nun auf Köln zu. In der Kölner Altstadt sind die Schutzwände aufgebaut. Es besteht aber leider keine Hoffnung, dass die Spundwände die Flut aufhalten werden. Spezialisten des Hochwasserschutzamtes von Köln gehen nach momentanen Schätzungen von einer Pegelhöhe in Köln mit 10,30 Meter aus. In der nächsten Stunde ist mit der Überflutung zu rechnen“

Wir schauten uns an. Einige nickten mit den Köpfen. Wissend, was jetzt passieren würde. Denn, die Crew, die jetzt noch im Haxenhaus zurückgeblieben war, hatten schon das Hochwasser 1993 miterlebt. Thomas und Memet, die im Restaurant im Service arbeiteten. Adi und Georg, deren Vater als Hausmeister im Restaurant ausgeholfen hatte und Rolf, der Elektriker, dessen Freund die „Story“ des Hochwassers im Haxenhaus für die Nachwelt in Bildern festhalten wollte.

Vorsorglich hatten wir schon über Tag die Eingangstüren durch Maschendrahtbauzäune ersetzt, unser Schlauchboot, das wir bei der letzten Flut gekauft hatten, vom Speicher geholt und aufgepumpt und wegen einem drohenden Stromausfall das Kofferradio organisiert.

„Dann geht es ja gleich los!“ meinte Adi.
„Wenn das einmal über die Spundwand drüber ist, dann geht das ruck-zuck“

„Mh, ich erinnere mich, das läuft zuerst unter der Deutzer Brücke über die Spundwand.“ Antwortete Memet.

„Und wenn das Wasser überschwappt, dann braucht es auch nur Minuten, nein kürzer, nur Sekunden, bis es hier bei uns am Haxenhaus reingießt!“ erinnerte sich Georg.

„Hört auf! Ich will gar nicht daran zurückdenken, mit welcher Wucht diese kalte Brühe in den Keller geschossen kam. Und jetzt schon wieder dieser Scheiß!“ gab Thomas frustriert von sich.

„Wo ist eigentlich der Fotograf? Rolf, wie heißt dein Freund nochmal?“  Mehmet sah Rolf fragend an.

„Marvin heißt der. Der wollte doch nochmal in den Keller, den leeren Keller fotografieren“ antwortete Rolf, sichtlich genervt.

„Ist der des Wahnsinns! Rief Adi, sprang auf und sprintete zur Kellertür… das Hochwasser ist gleich am Haus und wenn das Wasser in den Keller schießt, kommt der nicht mehr raus! Ich habe das gesehen, ´93. Ich hab´ das gesehen! Ist der Kerl des Wahnsinns!“.

Adi riss die Kellertür auf und schrie: „MARVIN! Wo bist du? MARVIN! MARVIN!!!, du Idiot, mach, dass du aus dem Keller kommst! Das Wasser kommt“.

Keine Antwort…

Draußen hörte man das Gurgeln der Flut. Dieses elende Geräusch, das sich bei letzten Mal ins Hirn gefressen hatte, das vor dreizehn Monaten schon für ein elendes Gefühl im Magen gesorgt hatte, wurde immer lauter und drohender.

Memet hatte sich hinter Adi gestellt, der schon mehrere Stufen die Kellertreppe mit seiner Taschenlampe hinuntergestiegen war. Jetzt schrien beide, so laut sie konnten: „MARVIN! MARVIN! MARVIN!“

„Ich komme gleich“ tönte es leise aus einem der hinteren Räume des Kellers.

„Nicht gleich, du Idiot, SOFORT!“ schrien beide von der Treppe aus.

„Ich muss noch ein, zwei Bilder schießen!“ rief Marvin zurück, „Ich komme dann“.

„Adi stieß Memet an: „Komm, wir holen den Arsch“.

Adi und Memet sprangen von der Treppe in den Keller und hasteten hin zu dem Raum, wo sie Marvin vermuteten.

Wir, oben im Restaurant, die angestrengt durch das Fenster nach außen äugten und auch das anschwellende Geräusch der kommenden Flut hörten, hatten nichts davon mitbekommen, wohin Adi und Memet gegangen waren.

„Gott sei Dank haben wir unser Schlauchboot schon aufgepumpt, damit wir gleich nach draußen fahren können. Wo sind Adi und Memet?“ fragte ich.

Thomas: „Die wollten nach dem Fotograf gucken!“

„Und wo sind die jetzt?“

„Wahrscheinlich noch im Keller!“ Thomas stierte mich an, während er sprach, mit weit aufgerissen Augen an, begreifend, WAS er da gerade sagte „Oh mein Gott, sind die alle bekloppt!“

Draußen vor dem Fenster waren die ersten nassen Flecken auf den Steinen der Terrasse zu sehen. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass in wenigen Sekunden die Flut über uns hereinbrechen würde.

Wir stürmten zur Kellertreppe, um die drei, die noch unten waren, zu warnen.

Kellertür aufreißen, auf den ersten Treppenabsatz springen und nach den dreien schreien war eins.
Mir blieb der Schrei im Hals stecken, als ich sah, wie Adi und Memet Marvin zwischen sich im Griff hatten und ihn die Treppe hochschleiften. Von der Stirn von Marvin tropfte Blut auf seine Jacke.

Adi und Memet waren sichtbar außer Atem, aber es gelang ihnen, den Körper von Marvin hochzuwuchten.
Schnell halfen wir und mit vereinten Kräften zogen wir Marvin die letzten Stufen die Treppe hoch.
„Wir haben ihn im Schnapskeller gefunden Mann….Da stand der und knipste seelenruhig die nackten Wände. Wegen dem riesigen Krach von draußen hat er uns nicht kommen hören. Als ich ihm dann auf die Schulter klopfte, ist er erschrocken zusammengezuckt, vor lauter Schreck herumgewirbelt und hatte sich bei dem Schwung die eigene Kamera vor den Schädel geknallt und ist in die Knie gegangen“ stöhnte Adi. „Der Arsch“

Während Adi noch nach Atem rang, tat es einen riesigen Knall. Aus dem unteren Teil der Tür zu Salzgasse brach ein Stück heraus und eisiges Wasser stürzte um unsere Füße und Beine herum runter in den dunklen Keller.

Wir schafften die letzte Stufe, schleppte Marvin mit uns durch das Restaurant und setzten ihn auf die höher gelegene Treppe, die in die 1. Etage führte.

Erst jetzt bemerkte ich die stark blutende Platzwunde an der Stirn von Marvin. Schwer atmend erholten sich Adi und Memet von ihrer Rettungsaktion im Keller.

Tosend schoss das Wasser in den Keller. Es gab kein Halten mehr. Durch offenstehende Türen von der Frankenwerft-Seite, von der Salzgasse und vom Buttermarkt stieg die Flut unaufhörlich, um dann später als Jahrhunderthochwasser mit der einer Kölner Pegelhöhe von 10.69 Metern In den Geschichtsbüchern vermerkt zu werden.

Bis nächste Woche.